Helfer kritisieren „Mietwucher“ / Pro Person 375 Euro für ein Doppelzimmer ohne Toilette
Dietzenbach – Die Integration der Flüchtlinge wird behindert, sie werden sogar über den Tisch gezogen. Es sind harte Vorwürfe, die Initiativen zur Flüchtlingsbetreuung dem Kreis Offenbach machen. Grund: Die Gebühren in den Unterkünften grenzten an Mietwucher und machten jeder Initiative, eine bezahlte Arbeit aufzunehmen, den Garaus. Der Kreis lehnt Sonderregelungen ab, verweist auf die Gebührenregelung und das Prinzip der Sozialhilfe, das für jeden Bürger gelte.
Auslöser des Zwistes ist das Prinzip, dass anerkannte Flüchtlinge oder Geflüchtete im Asylverfahren – falls sie Einkommen haben – die Gebühren für ihre Unterkunft selbst zahlen müssen. Dies führt angesichts der Tatsache, dass es sich bei den Jobs meist um gering entlohnte Tätigkeiten handelt, dazu, dass häufig kaum mehr übrig bleibt als jene Summe, die ein Bezieher von „Sozialhilfe“, sprich: SGB II, oder von Asylbewerberleistungsentgelt erhält. „Da wohnen zwei Personen im Doppelzimmer. Der eine steht jeden Morgen brav auf und geht zur Arbeit, der andere bleibt liegen. Aber beide haben am Ende des Monats fast gleichviel Geld in der Tasche“, empört sich Gerd Wendtland von der Flüchtlingshilfe Dietzenbach,
Die Aktiven, die für mehrere Hundert ehrenamtlich engagierte Flüchtlingshelfer im Kreis Offenbach sprechen, haben Beispiele. So berichtet Flüchtlingshelfer Michael Kaul (Neu-Isenburg) von einem jungen Mann, der etwa 700 Euro netto im Monat verdient. Da er in einem Doppelzimmer untergebracht ist und somit in einer „Bedarfsgemeinschaft“ lebt, stehen ihm laut Asylbewerberleistungsgesetz auch ohne Job 310 Euro an Grundbedarf monatlich zu. Die Miete – oder offiziell: „Gebühr“ – für ein Stockbett im Doppelzimmer liegt bei 375 Euro. Von den 700 Euro Einkommen bleiben ihm nach Abzug dieser Gebühr 325 Euro. Dies sind exakt 15 Euro mehr als ein Sozialhilfeempfänger hat, der keiner Beschäftigung nachgeht. Kaul berichtet von einer Flüchtlingsfamilie mit drei Kindern, deren Ernährer knapp 3 200 Euro als Arzt verdient. Laut SGB II stehen der in einem Gemeinschaftszimmer einer Flüchtlingsunterkunft des Kreises lebenden Familie als Grundbedarf 1 435 Euro zu. Das gesamte restliche Einkommen in Höhe von 1 750 Euro werde als Gebühr für die Unterkunft eingezogen.
Nach Angaben des Kreises zahlen derzeit 251 Menschen den Höchstsatz der Unterbringungsgebühren in Höhe von 375 Euro. Die Sprecher der Flüchtlingshelfer sehen ihre Bemühungen um Integration durch Arbeit durch das Abschöpfen von Einkommen konterkariert. „Sobald der monatliche Verdienst die Grundunterstützung von 424 Euro bei Sozialhilfe und 344 Euro nach Asylbewerberleistungsgesetz übersteigt, muss ein Geflüchteter mit einer Beteiligung an den Nutzungsgebühren rechnen“, stellen die Flüchtlingsinitiativen im Kreis Offenbach in einem Positionspapier fest. „Das ist ein Integrationshemmnis. Wenn den Leuten kaum etwas bleibt, sinkt die Motivation, arbeiten zu gehen“, sagt Ursula Klinzing von der Flüchtlingshilfe Obertshausen. Eine Teilnahme am gesellschaftlichen Leben sei so unmöglich. Auch komme es vor, dass auf illegale Jobs ausgewichen werde – mit der Folge, dass erneut Anspruch auf staatliche Leistungen bestehe. Ohne geregelte Jobs, so die Einschätzung der Aktiven, würden soziale Probleme in den Unterkünften und psychische Auffälligkeiten zunehmen – ebenfalls verbunden mit neuen Kosten für die Allgemeinheit.
„Für Geflüchtete gelten die gleichen Regeln wie für andere Sozialhilfeempfänger auch – das wird hunderttausendfach bundesweit praktiziert“, stellt Kreisbeigeordneter und Sozialdezernent Carsten Müller (SPD) klar. Man könne Flüchtlinge nicht besserstellen, indem man deren Einkommen bei den Kosten einer Unterkunft unangetastet lasse, so Müller.
Im Falle der Flüchtlinge im Kreis Offenbach sehen die Aktiven allerdings einen Unterschied: „Niemand will in Abrede stellen, dass die Unterkunft bezahlt werden muss, wenn eigenes Einkommen vorliegt“, sagt Herbert Villinger vom Freundeskreis für Flüchtlinge Rödermark. Die Gebühren für die Zimmer seien aber im Kreis Offenbach „unanständig hoch“. „Auf dem freien Markt wäre das Wucher. Wir wollen kein Wohnen umsonst, aber wir wollen für die Geflüchteten eine angemessene Leistung für ihr Geld“, ärgert sich Ursula Klinzing. So würde für ein mit zwei Menschen belegtes Zehn-Quadratmeter-Zimmer mit Gemeinschaftsküche und Toilette auf dem Flur eine Gebühr von 375 Euro pro Monat und Kopf anfallen. Ein schlichtes Doppelzimmer ohne eigene Küche oder Badezimmer mit 17 Quadratmetern Fläche koste 750 Euro. „In vielen Fällen ergeben sich Quadratmeter-Mietpreise von 40 Euro. Das steht in keinem Verhältnis zur Qualität der Unterbringung“, so Wendtland. Den Geflüchteten bleibe oft keine andere Wahl, als zu bleiben. Entweder hätten sie auf dem angespannten Wohnungsmarkt keine Chance auf eine andere Wohnung, oder sie befänden sich noch im Asylverfahren und könnten nicht so einfach die Unterkunft wechseln.
Kreisbeigeordneter Müller lässt das Kostenargument nicht gelten. „Unsere Gebühren für die Zimmer müssen – das ist gesetzlich vorgeschrieben – kostendeckend sein. Die Kalkulation wurde vor Gericht als korrekt bewertet.“ Es seien ihm auch Fälle bekannt, wo „gutverdienende Leute, die sich ohne Weiteres eine Wohnung auf dem privaten Wohnungsmarkt leisten könnten, trotzdem in der Unterkunft bleiben“. Ausgelöst wurde das Problem im Kreistag durch die mit den Stimmen von CDU, SPD, FDP, Freie Wähler und AfD Mitte 2018 beschlossene Fast-Verdoppelung der Unterbringungsgebühren in den Flüchtlingsheimen des Kreises von 194 auf 375 Euro pro Platz. Vorausgegangen war eine Änderung des Landesaufnahmegesetzes durch das Land Hessen am 1. Januar 2018, demzufolge die Kreise die Gebühren in eigener Regie festsetzen können. Die Kommunen im Kreis schlossen sich der Erhöhung an.
Die Flüchtlingsinitiativen fordern nun eine Rücknahme dieses Preisaufschlags oder eine Härtefallregelung zur Entlastung der Selbstzahler. Ein entsprechender Antrag der Linken im Kreistag wurde allerdings von allen Fraktionen außer Linken und Grünen abgelehnt. Auch die Vorstöße der Flüchtlingsinitiativen im Hessischen Landtag verliefen im Sande. Härtefallregelungen verordneten sich Darmstadt und Kassel, der Kreis Fulda, sowie der Lahn-Dill-, Main-Taunus- und der Werra-Meißner-Kreis.
Müller verweist darauf, dass die alten Gebührensätze seit vielen Jahren nicht angepasst worden seien. Das Kommunalabgabengesetz erlaube zudem schon jetzt eine Berücksichtigung von Härtefällen. Sein Resümee: „Die Sache ist gesetzeskonform, ein Änderungsbedarf schwer erkennbar.“
Die Flüchtlingsinitiative Dietzenbach bezeichnet die hohen Gebühren für Selbstzahler als „Kollateralschaden“. Denn bei den Gebührensatzungen gehe es eigentlich gar nicht um eine Kostenbeteiligung der Flüchtlinge, sondern um Erstattungsregelungen zwischen den verschiedenen Kostenträgern. In der Regel komme der Bund für die Unterbringungskosten auf. Die Linke im Kreistag spricht von einem „unwürdigen Finanzpoker zwischen den politischen Ebenen“. Die Flüchtlinge seien das „Bauernopfer“, heißt es.
Quelle: Offenbach-Post, Montag, 10. Februar 2020
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